14.10.17 – 27. Tag

von Katja Härle

14. Oktober 2017

Portomarín – Mélide
(40,3 km)

Was für ein toller Tag. Ein Tag vieler Eindrücke, neuer Erkenntnisse, großartiger Begegnungen – insbesondere der wohl besondersten Art überhaupt…
Und nein, ich habe mich nicht neu verliebt. Oder vielleicht doch? ? Aber dazu später mehr…
Der Tag beginnt auf jeden Fall schauderhaft. Ich starte früh, denn, auch wenn ich die 40 Kilometer nur in meinem Hinterkopf geplant hatte (ich wollte mir die Freiheit lassen, wenn ich es nicht ohne Druck und Qual schaffe, deutlich früher zu stoppen), wollte ich zeitig los, um zumindest in frischer Morgenluft gut voranzukommen. Und irgendwie fühlte es sich immer gut an, wenn ich früher als die meisten unterwegs war. Der Weg und der Tag erscheint mir dann immer noch so frisch und unangetastet, unverbraucht und friedlich. Wenn ich deutlich später in den Tag starte, wuselts bereits überall. Die Luft scheint gesättigt und verbraucht und ich fühle mich irgendwie unter Druck, schnell voranzukommen, um aufzuholen, was ich durch das Bummeln am Morgen verpasst zu haben scheine. Das ist nur ein Gefühl und ich möchte mich von diesem auch nicht überwältigen lassen, dennoch ist es halt nunmal da und belastet dadurch irgendwie.

Nun denn, zurück zum heutigen Start in den Tag. Ich breche bereits um 6:15 Uhr auf. Es ist stockdunkel. Klar, es ist ja zwischenzeitlich tiefster Herbst und seit Anbeginn meiner Reise zu der Zeit einfach noch dunkel. Nur, bislang waren die Nächte und frühen Morgenstunden immer sternenklar und der Mond spendete angenehmes Licht. Trotzdem hatte ich mich bereits einmal bei so frühem Start etwas gefürchtet. Da waren dann aber zum Glück gleich Pilger um mich. Heute morgen: nichts und niemand.

Und… alles von gruseligem Nebel umgeben. Portomarín habe ich schnell verlassen. Es geht hinein in den Wald. Alles ist Pechschwarz. Meine Taschenlampe erhellt gerade mal einen guten 2m Umkreis um mich. Und hell ist es auch innerhalb dieses Kreises nicht: alles erscheint trüb und milchig durch den Dunst. Es ist gespenstisch und gruselig, dass mich mein eigener Mut schreckt und zu verlassen scheint. Es kommen Gedanken hoch, die ich besser ganz schnell verdränge. Ansonsten renne ich in Panik aus dem Wald wieder Richtung Portomarín. Und tatsächlich gelingt mir das, was sonst selten funktioniert: ich schiebe die Gedanken weg und plappre meditativ – nicht ganz und gar ohne Furcht – „ein Schritt nach dem anderen, du schaffst das, gleich bist du durch“ vor mich hin. Außerdem verbiete ich mir, mich weder umzudrehen, noch seitlich in den dunklen Wald zu spähen, noch stehen zu bleiben. Die Fantasie kreiert sonst doch noch was Verdächtiges….
So rase ich förmlich durch den Wald und da es zudem leicht bergauf geht, weiß ich später nicht, ob ich aus Anstrengung oder Furcht zumindest am Oberkörper ziemlich durchnässt bin.
Zwischendurch sende ich Wünsche nach oben, ich möge jetzt doch auf die sonst so nervenden anderen Pilger treffen, wenigstens zwei wären toll. Und dabei denke ich vor allem an Helen und Steve, das westaustralische Pärchen, das ich durch Symon kennengelernt habe und die immer so früh starten. Denn sie waren ebenfalls in Portomarín übernacht.
Ein paar Minuten später – sicher gefühlt eine Ewigkeit – sehe ich doch dann tatsächlich Taschenlampen vor mir. Ich kann mein Glück kaum fassen, schicke Dankesbekundungen in den nachtschwarzen Himmel und schließe schnell auf. Doch irgendwie sind die zwei Gestalten seltsam. Der Kleinere der beiden redet recht angestrengt, der Größere brummelt nur zurück. Ich überhole sie also mit einem „Buenos días“ und denke, naja, vielleicht reicht es ja, wenn ich sie nur hinter mir weiß. Das ändert sich aber schnell, denn nach ein paar Metern entlang der Straße, die mir mehr Sicherheit gibt, beginnt wieder ein Waldabschnitt und da habe ich die zwei längst abgehängt. Wieder stoße ich den Wunsch aus, wären doch nur Helen und Steve hier irgendwo. Da meldet sich eine innere Stimme, die sagt: man kann es dir nicht recht machen. Du wolltest wenigstens zwei Pilger, die hast du bekommen. Also entscheide ich mich für das einzig Richtige, bleibe stehen, beschäftige mich damit, in meinem Wanderführer nach der Entfernung zum nächsten Ort zu schauen und warte, bis die zwei Gestalten wieder zu mir aufgeschlossen haben. Diese entpuppen sich dann als zwei total quirlige Brasilianer. Beide wohl so zwischen 60 und 70 sind erst seit dem 23.09. unterwegs – also 5 Tage nach mir – und ebenfalls in St.-Jean-Pied-de-Port gestartet. Die zwei laufen doch tatsächlich im Schnitt 40 km am Tag!!! Ihnen werde ich heute öfter begegnen, haben sie doch das gleiche Ziel wie ich. Und morgen, ja morgen wollen sie vielleicht die restlichen 53 Kilometer (!!!!) nach Santiago abschließen. Mir fehlen die Worte.
Kaum habe mich an die Gesellschaft der beiden gewöhnt, als sich von hinten ein weiterer Pilger nähert. Der Pilger stellt sich dann aber tatsächlich als zwei heraus und als sie uns überholen und ich Helen und Steve erkenne, falle ich fast vom Glauben ab. Nein, genau umgekehrt: so viele Zufälle der Erfüllung meiner so inbrünstig ausgesprochene Wünsche kann es ja wohl kaum geben!
So laufe ich nun mit diesen bis zum nächsten Ort und dann gibt’s nach der ganzen Aufregung erstmal Frühstück.

Und erst so langsam erkenne ich, was da eigentlich passiert ist:
Ich bin völlig alleine bei größter Dunkelheit knapp eine Stunde durch den Wald gelaufen, was ich nie für möglich gehalten hätte, hätte mir jemand die Szenerie vorher beschrieben.
Denn das kennt wohl jeder – zumindest die Mädels unter uns: wenn man einen Grusel- oder Horrorfilm anschaut und eine Frau läuft bei Dunkelheit in den Wald, schreit alles in einem „Tu das nicht! Nur nicht in den Wald.“ Und als nächstes denkt man, das würde ich nie tun. Ich würde mich zu Tode fürchten. Aber nein. Ich habe es gemacht.
Mir war natürlich schon vorher klar, dass es dunkel sein wird, aber heute war es mit dem ganzen Nebel schon speziell. Ja klar, wird so mancher denken, was soll schon passieren? Na, zum Beispiel das mich die Panik packt. Das habe ich davor schon von der ein oder anderen gehört, die wieder umgedreht ist und auf den Sonnenaufgang gewartet hat. Ich bin mir sicher, viele hätten sich in der selben Situation mindestens genauso gefühlt. Also, was war daran nun besonders? Ich habe es geschafft, mich zu beruhigen, eben nicht in Panik zu verfallen und mich einfach aufs Gehen konzentriert. Das ist wahnsinnig viel, und noch mehr: das, was da heute Morgen passiert, in mir passiert ist, ist, dass ich meine eigene innere Stärke wieder gespürt habe. Dass ich das, worum es mir auf dem Camino eigentlich die ganze Zeit ging, wenn ich meinte, mich hier wieder zu finden, innere Ruhe zu finden, heute Morgen in tiefschwarzer, gruseliger Nacht im Wald gefunden habe: meine immense, innere Stärke, die mich so gut wie alles meistern lässt. Das ist mein eigentliches Potenzial. Ich bin kein Mensch der Langsamkeit, das brauche ich auch nicht zu suchen. Ich habe innere Stärke, unbändige Kraft. Und daran musste ich mich nach so langer Zeit erinnern. Warum etwas suchen, finden wollen, was ich nie war? Ich musste mich daran erinnern, was ich bin, was ich schon immer hatte. Das, ganz genau das, weiß ich jetzt! Ich bin noch immer ganz ergriffen, wenn ich daran denke, welchen Schalter dieses Erlebnis in mir umgelegt hat. Denn eines war die ganze Zeit trotz Furcht in mir ganz klar: das ich das schaffe!
Tja, was bleibt daneben noch zu berichten? ?
Nun denn, letztlich geht der Tag genauso beseelt weiter. Der Weg ist gigantisch, einfach traumhaft und wahrscheinlich mein Favorit. Nein. Definitiv, diese Etappe ist mein absoluter Favorit.
Kaum anstrengende Wege, wenig auf und ab, sehr abwechslungsreich durch vielzahlige, malerische Dörfchen und immer wieder dazwischen Abschnitte, die anmuten, als liefe ich durch den Dschungel. Dadurch lassen sich große Distanzen ohne wirkliche Anstrengung bewältigen.

Überall Eukalyptusbäume.

Wie im Dschungel…

Meine Beine sind zwischenzeitlich so stark und muskulös (ich glaube, meine ohnehin schon ausgeprägten Wadln sind locker auf das 1,5-fache angewachsen), dass ich fast spielend die 40 Kilometer laufe. Der Tag ist ein Traum.
Noch von unterwegs buche ich mir ein Einzelzimmer; mir verlangt es heute nach Ruhe und Privatsphäre. Und während ich in Melide einlaufe, denke ich noch bei mir, wie toll es wäre, wenn ich meinem Körper eine Massage gönnen könnte. Et voilà: da erscheint ein Laden, der neben Haareschneiden auch Massagen anbietet. Was bleibt mir da noch zu sagen außer: Wunschlos glücklich?
Ein perfekter Tag auf dem Camino!

Abschluss eines wundervollen Tages!
Buen provecho!

Ich muss das jetzt noch ergänzen:
als ich heute in der Herberge, in der ich ein sehr schönes Einzelzimmer gebucht habe, ankomme, führt mich eine nette Dame in alle Gegebenheiten ein. Sie erklärt mir auch die Verwendung der Waschmaschine. Auf ihre Frage bzgl. des Trocknens der Wäsche bin ich etwas unsicher, ob ich den Trockner nutzen muss oder es auf die Wäscheleine hänge. Sie stutzt, weil es doch so sonnig und warm sei. Ich erkläre ihr, dass ich gleich einen Massagetermin habe und deshalb die Wäsche erst sehr spät aus der Maschine nehmen kann. Kurzerhand sagt sie, sie würde meine Wäsche aufhängen. Ich bin total baff und bedanke mich bei ihr mehrfach.
Als ich nun von Massage, Essen, Einkaufen etc. zur Herberge zurückkehre, kommt sie mir mit meiner Wäsche, in einen Korb zusammengelegt, entgegen. Ich bin ob so viel Nettigkeit ganz ergriffen…

Der Camino wartet mit vielem auf. Aber die Freundlichkeit der meisten Menschen hier sucht seinesgleichen. Selten, dass ich mir irgendwo in einem Land oder Ort als Fremder so willkommen vorgekommen bin!



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