Primarette – La Chapelle-de-Surieu 15,3 km
Nicht geplant. Die Strecke war so nicht geplant. Gestern habe ich mich schon mal kurz verfranzt. Nicht schlimm; ich habe einfach eine Abzweigung verpasst und bin später wieder auf den Jakobsweg gestossen. Heute laufe ich eine nördliche Variante des Jakobswegs, was ich eigentlich gar nicht wollte. An einer Kreuzung geht die originäre Route geradeaus und die Variante rechts ab, was durch einen Punkt auf der Jakobsmuschel gekennzeichnet wird. Der war mir einfach zu klein und ich zu sehr in Gedanken, als dass ich mehr als einfach die Muschel wahrgenommen hätte. Und die reicht mir als Hinweis, dass ich abbiegen muss. Demnach habe ich mir die Schilder für geradeaus gar nicht mehr angeschaut. Aufgefallen ist es mir tatsächlich erst daran, dass ich Ruth nicht mehr sehe.
Ruth und ich haben uns beide heute Morgen sehr viel Zeit gelassen. Zu schön war es in der „Farm der tausend Farben“. Fred ist Bäcker und musste bereits um kurz nach 3 Uhr das Haus verlassen. Bevor er zur Arbeit geht, hat er uns noch ein fulminantes Frühstück vorbereitet.
Ich glaube, wäre Ruth nicht irgendwann aufgestanden, ich wäre wohl sitzen geblieben. Heute trieb mich irgendwie nichts auf den Weg.
Es ist so viel – sogar Crêpes und Kuchen gibt es – dass es mir schon fast arg ist, nur wenig essen zu können. Tatsächlich habe ich kaum Hunger, seit ich vor 1,5 Wochen gestartet bin. Vielleicht die Hitze, vielleicht Teil meines diesmaligen Weges. I don‘t know. Ist nur so. Also trinken wir gemütlich Kaffee (frisch gebrüht, Zeitprogrammierung sei Dank) und ratschen.
Ruth startet bereits, während ich noch rumtrödle. Um 9:30 Uhr schaffe es schließlich dann auch ich. Da sehe ich Ruth noch den Berg hinaufwandern. Vielleicht 10 Minuten vor mir. Da ich heute auch nicht sehr zügig gehe und die Trödelei des Morgens fortführe, bleibt der Abstand erhalten. Immer wieder, wenn es der Weg zulässt, sehe ich Ruth ein gutes Stück vor mir. Doch nach gut 1,5 Stunden eben nicht mehr.
Ein Blick auf den Wanderführer und meinen Standort bringt die Erklärung: ich habe unbewusst eine Jakobsweg-Alternative gewählt. Diese ist zudem 5 Kilometer kürzer als die originäre Route. Na, das passt ja zu meinem heutigen Elan. Also knalle ich mich um 13 Uhr keine 1,5 Kilometer vor dem heutigen Ziel einfach mal ins Gras und mache 1,5 Stunden Pause. Denn, schon um 13 Uhr ankommen, möchte ich nicht. Ich bleibe lieber noch ganz für mich und mit meinen Gedanken.
Ja, meine Gedanken haben es gerade in sich. Schon seit gestern beschäftigt mich Vergangenes. Vielleicht wäre es besser im Vergessenen geblieben, oder es ist genau die richtige Zeit für eine Aufarbeitung. Immer wieder kommt mir – sowohl bei meinen „Umwegen“ als auch bei den auftauchenden Gedanken: der Weg gibt dir nicht das, was du willst, sondern das, was du brauchst. Und das ist nicht immer mit schönen Gefühlen verbunden. Genauer gesagt wechselt heute meine Stimmung von sehr gut gelaunt zu melancholisch. Die 1,5 Stunden im Gras bringen mich dabei nochmals mit meinen inneren Höllen und unverarbeiteten Gefühlen in Kontakt.
Um kurz vor 15 Uhr entscheide ich, es ist eine gute Zeit, um für heute anzukommen.
Die Unterkunft bei Yvette liegt ca. 1,5 Kilometer abseits des Weges und ist eine Accueil Jacquaire – also eine private Pilgerunterkunft auf Spendenbasis. Fred hat diese gestern für mich und Ruth organisiert. Man kennt sich 😉 Die geplante Etappe wären knapp 18 Kilometer gewesen. Aufgrund meiner unbewussten Streckenwahl sind es schlussendlich nur 15 Kilometer. Und auch die morgige Etappe wird mit voraussichtlich 18 Kilometer eine kurze werden – aber wer weiß…
Derzeit verfolge ich das Ziel, dass meine Gastgeber von heute mir die Unterkunft für morgen reservieren. Wie gesagt, man kennt sich (aus) und sie sprechen alle französisch 😉