12.06.2025 – Navarrenx bis kurz vor Sorhapuru 33,8 km und dann 11 km weiter per Van
Ich starte kurz vor neun, vielleicht zu spät für eine lange Etappe. Die letzten zwei Tage habe ich meinem Körper eine Ruhepause gegönnt, wobei einen Tag davon gearbeitet habe. Am anderen Tag, an dem ich wirklich pausierte, stelle ich fest, dass das mit dem Leben genießen gar nicht so einfach ist. Immer fällt mir was zu tun ein. Also habe ich eingekauft und das nicht so knapp – Lebensmittel natürlich und Dinge, die wir für den Camper brauchen- und Wäsche gewaschen – von Hand, richtig schön meditativ. Haushalt eben. Also genau die Art von Aufgaben, die ich normalerweise gar nicht so gerne mache und dabei festgestellt, dass es mich regelrecht entspannt. Also bin ich doch durch und durch Deutsch. Im Arbeiten entspannen. Ich lach mich kaputt. Es gibt unterschiedliche Arten von Arbeiten: Arbeiten, die mich stressen, Arbeiten, die ich gerne mach und Arbeiten, bei denen ich tatsächlich entspannen kann. Wie eben Wäsche waschen und putzen. Ich muss nur Bock darauf haben. Das ist eben das Problem.
Und wie sieht es heute mit dem Bock zu laufen aus? Um ehrlich zu sein, ich weiß es noch nicht genau.
Was mich voranbringt, ist der Gedanke, dass es nicht mehr weit ist. Das lässt mein Herz tatsächlich hüpfen. Die Vorstellung fühlt sich saugut an, bald in St-Jean-Pied-de-Port anzukommen.
So mache ich mich heute Morgen auf, ohne zu wissen, wo ich tatsächlich heute Abend ankommen werde. Ich habe null Plan. Laufe ich eine lange Etappe? Laufe ich eine kurze Etappe? Ich weiß es schlicht und ergreifend nicht. Und ich geb mich damit erstaunlicherweise gerade zufrieden.
Und während ich so vor mich hingehe, tauchen immer wieder Erinnerungsfetzen. Erinnerungen an meinen ersten Jakobsweg oder an einen der doch zahlreich Folgenden. Momente, an die ich mich erinnern kann, Erkenntnisse, die ich verinnerlicht zu haben scheine und dann auch die Frage, was ich wohl alles vergessen habe und wieso ich es vergessen habe. Die Dinge, die mir in Fleisch und Blut übergegangen sind, die ich mir quasi erlaufen habe, die sind parat. Eigentlich fast ständig. Viele andere Momente und wahrscheinlich auch die ein oder andere Erkenntnis habe ich vergessen. Naturgemäß kann ich mich nicht an alles erinnern, oder? Und da bin ich tatsächlich sehr glücklich über meinen Pilger-Blog. Ich habe zwar selten in meinem Blog alles geschrieben, was am Tag so passiert ist und mir durch den Kopf ging oder ich auch erlebt habe, und gleichzeitig dient er mir als Erinnerungsstütze. Es tauchen beim Lesen des Blogs wieder Bilder auf, die ich vergessen hatte, und mit den Bildern auch die ein oder andere Einsicht oder Erkenntnis. Und trotzdem ist mir bewusst, dass ich mich längstens nicht an alles erinnern kann und auch nicht muss. Ich vertraue einfach darauf, dass das, was mir wichtig und dienlich ist, in Erinnerung bleibt. Und das andere ist, glaube ich, zu recht in Vergessenheit geraten.
Und dann taucht noch etwas auf.
Ich liebe ja Metaphern und Gleichnisse, weil ich dadurch das Leben besser begreifen kann. Und so kommt mir heute erneut: müsste ich nicht etwas anderes fühlen, als ausschließlich der tiefe, brennende Wunsch endlich anzukommen? Müsste ich beim Gehen nicht noch etwas anderes, als das pure Ankommen wollen, spüren? Dabei fällt mir der Vergleich zum Lebensweg ein: wenn ich mich am Ende meines Lebensweges nur noch auf den Tod freue oder gar nach dem Tod sehne, was sagt das aus?
Zuerst schockiert mich der Gedanke. Doch langsam, langsam rieselt es durch mich hindurch, dass das in meinem Fall bedeutet, dass ich viele, viele Kilometer hinter mir habe, dass ich durch viele Täler und Berge gegangen bin. Ich habe unglaublich viel erlebt und erfahren, Erkenntnisse gesammelt. An vieles kann ich mich erinnern, an vieles auch nicht. Ein Sack voller Erinnerungen, ein Sack voller Leben. Ist es da nicht ein schöner Gedanke, wenn ich dann nur noch die Vollendung herbeisehne, den Abschluss, das Ende? Bedeutet das nicht, dass ich erreicht habe, weshalb ich mich einst auf diesen Weg machte, mich auf den Lebensweg machte? Ich bin angefüllt mit Eindrücken und Erfahrungen. Mein Körper erinnert sich an vieles. Ich rieche Heu – der Duft des Sommers. Und Bing, das ruft eine ganz konkrete Erinnerung wach, die ich mit meinem ersten Freund erlebt habe. Nichts Spektakuläres, aber jedes Mal, wenn ich Heu rieche, kommt sie hoch.
Ja, mir hat der Jakobsweg viel für das Leben aufgezeigt. Ich habe viel durch das Gehen, das Pilgern auf Jakobswegen über mich, über meine Sichtweise und über meine Lebensweise verstanden und ich habe viel erreicht, viele Erkenntnisse erlangt, die mir auf meinem weiteren Lebensweg geholfen haben.
Pilgern ist für mich also eine Metapher für das Leben selbst. Kein Wunder also, dass es mir sehr viel bedeutet.
Der Umstand, dass ich mich nun zum Ende auch auf das Ende freue, heißt nur, dass es tatsächlich zu einer Art Vollendung gekommen ist. So wie ich es mir auch wünsche, am Ende meines Lebens erfüllt dem Tod entgegenzusehen. Es gibt nichts weiter mehr zu tun.
Und so ist es auch hier. Kein weiterer Weg ist mehr erforderlich – zumindest vorerst😉
Unser Stellplatz der letzten 3 Nächte auf dem Campingplatz in Navarranx
Ich verlasse Navarrenx um 9 Uhr.
Es duftet nach Heu – für mich der Inbegriff von Sommerduft
Die Pyrenäen sind das erste Mal so richtig zu sehen – wenn auch im Dunst liegend.
Heute sehe ich wenig Pilger – und wenn, dann meist auf Bänken und Ruheoasen sitzend.
In flirrender Hitze und praller Sonne auf Asphalt dahingehen.
Heute haben es mir irgendwie die Häuser angetan….
Bei ca. 34 km mache ich Schluss. Frank holt mich quasi direkt auf dem Weg ab und eine kleine Odysee der Stellplatzsuche beginnt. Mir ist fast jeder Platz zu sonnig, oder es gibt keinen.
Also werden es etwas mehr Kilometer, die ich mir einspare – 4-5 waren geplant, jetzt sind es um die 11 km. Nun ja, dafür haben wir einen schönen, ruhigen Schattenplatz und wieder mal direkt am Camino 🤓
Füße kühlen
Etappe 19 – langer Hatsch