Gefühle als Verbündete erleben

12. August 2024

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Wir alle kennen sie: schwierige Gefühle.
 
Dies sind zumeist Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Wut oder Ohnmacht. Aber auch innere Anspannung, wenn wir vor einer wichtigen Lebensentscheidung stehen. Unsere Erschöpfung, wenn wir stressige Tage hatten oder Enttäuschung, wenn etwas nicht so gelaufen ist, wie wir es wollten.
 
Nicht selten würden wir uns dann gerne anders fühlen. Aber Gefühle lassen sich nicht einfach ignorieren oder gar ausstellen.
 
Sie zu unterdrücken, führt nur dazu, dass sie sich auf anderem Wege zeigen und sich dadurch unser Leid noch vergrößert.
Sie haben uns etwas Wichtiges zu sagen und wollen von uns gehört werden. Und sie wollen gefühlt werden.
 
Gerade schwierige Gefühle sind dabei ein wichtiger Fingerzeig. Denn sie sind ein Hinweis auf Bedürfnisse, die gerade in Bedrängnis, sprich im Mangel, sind.
 
Lerne die Sprache deiner Gefühle und du hast einen wirkungsvollen Kompass, der dich durch dein Leben navigiert.
 
In dieser Podcast-Folge lernst du, wie du wieder Zugang zur Sprache deiner Gefühle findest.

 

 

Wenn Du lieber liest, statt Dir die Audio anzuhören, dann findest Du hier die Shownotes:

 

Gefühle als Gäste

Das Gasthaus 

Dieses menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit
kommt unverhofft als Besucher.

Begrüsse und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar Sorgen ist,
die gewaltsam Dein Haus seiner Möbel entledigt,
selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.
Vielleicht reinigt er Dich ja für neue Wonnen. 

Dem dunklen Gedanken der Scham und Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür und lade sie zu Dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind zu deiner Führung
geschickt worden aus einer andern Welt.

 

Rumi, Sufi-Dichter aus dem 13. Jahrhundert 

Inspiriert von Rumi, einem der größten mystischen Dichter der Menschheitsgeschichte, betrachte ich das Leben als ein Gasthaus. In diesem Gasthaus sind die Gefühle die Gäste, die jeden Morgen auf unserer emotionalen Schwelle erscheinen – manchmal willkommen, manchmal unerwartet und unbequem. Rumi erinnert uns daran, diese Gäste mit einem offenen Herzen zu empfangen, da sie alle einen Zweck erfüllen und eine Botschaft mitbringen.

Jeder emotionale Zustand, ob Freude, Trauer, Wut oder Angst, ist Teil unserer menschlichen Erfahrung. Indem wir diese Gefühle als Gäste betrachten, werden wir eingeladen, sie ohne Urteil zu empfangen und uns ihrer Bedeutung bewusst zu werden. Jedes Gefühl, das an unsere Tür klopft, bietet eine Gelegenheit zur Selbstreflexion und zur Auseinandersetzung mit unseren inneren Zuständen.

 

Die Funktion der Gefühle: Wegweiser und Lehrer

Gefühle sind nicht nur flüchtige Zustände, die wir erleben; sie sind wertvolle Indikatoren für unsere inneren Bedürfnisse und Wünsche. Freude signalisiert uns, dass wir im Einklang mit unseren Werten und Zielen leben. Sie ermutigt uns, das Leben zu genießen und zu feiern. Wut hingegen kann ein Zeichen dafür sein, dass unsere Grenzen verletzt wurden oder dass wir uns ungerecht behandelt fühlen. Sie fordert uns auf, uns zu schützen und für unsere Rechte einzutreten. Traurigkeit öffnet uns für die Akzeptanz von Verlusten und hilft uns, loszulassen. Sie ist ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses. Angst schließlich dient als Schutzmechanismus, der uns vor potenziellen Gefahren warnt und uns zur Vorsicht mahnt.

Letztlich steht hinter jedem Gefühl mindestens ein, meist ein ganzer Strauß an Bedürfnissen. Und gerade schwierige Gefühle können so zu wertvollen Hinweisgebern werden, wenn wir verstehen, dass sie uns nur darauf hinweisen wollen, dass gerade Bedürfnisse nicht erfüllt bzw. im Mangel sind.

 

Lerne (wieder) die Sprache deiner Gefühle

Wenn wir wieder die Sprache unsere Gefühle sprechen und verstehen, worauf sie uns hinweisen wollen, haben wir einen wertvollen Kompass in der Hand, der uns durch unser Leben navigiert. Unsere Gefühle lehren uns, hinzuschauen, hinzuhören und hinzufühlen, was gerade in uns los ist, worum es uns geht. Und damit haben wir die Klarheit, wonach wir unser Leben ausrichten können.

 

Eine tröstende Geschichte über die Traurigkeit

Es war einmal eine kleine Frau, die einen staubigen Feldweg entlanglief. Sie war offenbar schon sehr alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei einer zusammengekauerten Gestalt, die am Wegesrand saß, blieb sie stehen und sah hinunter.
Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Decke mit menschlichen Konturen.
Die kleine Frau beugte sich zu der Gestalt hinunter und fragte: „Wer bist du?“
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. „Ich? Ich bin die Traurigkeit“, flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.
„Ach die Traurigkeit!“ rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen.
„Du kennst mich?“ fragte die Traurigkeit misstrauisch.
„Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet.“
„Ja aber…“, argwöhnte die Traurigkeit, „warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?“
„Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?“
„Ich…, ich bin traurig“, sagte die graue Gestalt.
Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. „Traurig bist du also“, sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. „Erzähl mir doch, was dich so bedrückt.“
Die Traurigkeit seufzte tief. „Ach, weißt du“, begann sie zögernd und auch verwundert darüber, dass ihr tatsächlich jemand zuhören wollte, „es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest.“
Die Traurigkeit schluckte schwer. „Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: ‚Papperlapapp, das Leben ist heiter.‘ und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: ‚Gelobt sei, was hart macht.‘ und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: ‚Man muss sich nur zusammenreißen.‘ und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: ‚Nur Schwächlinge weinen.‘ und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen.“
„Oh ja“, bestätigte die alte Frau, „solche Menschen sind mir auch schon oft begegnet…“

Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. „Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu.“
Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt.
Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel.
„Weine nur, Traurigkeit“, flüsterte sie liebevoll, „ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr Macht gewinnt.“
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin:
„Aber…, aber – wer bist eigentlich du?“

„Ich?“ sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd. „Ich bin die Hoffnung.”

(von Inge Wuthe)

 

Weglaufen ist zwecklos – nur fühlen bringt Erleichterung

Gefühle lassen sich nicht verdrängen geschweigedenn loswerden. Sie drücken sich dann nur noch vehementer in Form von psychosomatischen Symptomen aus.

Jeder Tag bringt neue Gäste in unser inneres Gasthaus – seien es Gefühle der Freude oder der Trauer, des Friedens oder der Unruhe. Indem wir lernen, all diese Gäste mit Offenheit und Mitgefühl zu empfangen, bereichern wir unser Leben und fördern unser persönliches Wachstum. Der Weg zur emotionalen Reife führt durch die Akzeptanz und das Verständnis all unserer inneren Zustände.

Ich lade dich ein, diesen Weg der Selbstentdeckung weiter zu erkunden und deine Gefühle als wertvolle Begleiter auf deiner Reise zu sehen.
In diesem Sinne: Lasst uns gemeinsam die Türen unseres Gasthauses öffnen und die Lektionen annehmen, die jeder emotionale Gast mit sich bringt.