Chavanay – Bourg-Argental 27,7 km
Die Nacht war nicht so pralle. Viel zu warm, viel zu oft aufgewacht und viel rumgewerkelt. Vielleicht lag‘s am (zugegeben zu vielen) Roséwein. Vielleicht aber einfach an der Hitze und den Camino-Prozessen.
Jacky, der diese Woche als Hospitalero Dienst hat, ist eine Quasselstrippe vor dem Herrn und haut einen Kalauer nach dem anderen raus. Er spricht ziemlich gut englisch und scheint die Schweiz nicht zu mögen. Zumindest wird er nicht müde, über die Schweizer und ihr Land zu schimpfen. Ansonsten kriegen wir ein passables Essen und sitzen noch gut über 22 Uhr gesellig zusammen. Darf auch mal sein.
Jeroen ist übrigens in Tallinn – ja, genau, in Estland – gestartet. Warum? Einfach so. Er wollte von einem weit entfernten Punkt starten. Ganze 3500 Km ist er seit April schon gelaufen. Und, wie er sagt, bereits 1 Monat vor (!) seinem Zeitplan. Gestern hat er über 40 km Strecke gemacht. Ich staune nicht schlecht. Und na claro will er bis Santiago laufen. So etwas hat er in den letzten 11-12 Jahren schon 15x gemacht. Verrückt, oder?
Mit Chavanay habe ich übrigens den tiefsten Punkt der Via Gebennensis erreicht. Und mit der morgigen Etappe werde ich den höchsten Punkt beschreiten – hoffentlich. Ich will ja den Tag nicht vor dem Abend loben. Die heutige und die nächste Etappe versprechen daher, mit viel Bergauf aufzuwarten und damit auch anstrengend zu werden.
Trotzdem mache ich heute Morgen keinen Stress und starte gemütlich um 7:50 Uhr. Wir drei – also Jeroen, Ruth und ich – starten alle mit nicht allzu großem Abstand. Jeroen startet zuerst, dann ich und als Letzte Ruth.
Auf dem Weg treffen wir uns dennoch nicht. Es geht gleich zu Anfang ordentlich hoch. Die ersten 4-5 Kilometer ziehen sich etwas. Doch dann flutscht es immer besser, trotz immer wieder anstrengenden Passagen. Es ist ein abwechslungsreicher Mix aus Straßen, Feld- und Wiesenwegen, Schotter- und Gerölluntergrund und schattigen Waldpfaden.
Heute verlasse ich mal absichtlich die ausgeschilderte Route. Nach meinem Pilgerführer verlief der Weg unlängst noch anders. Mir fiel bereits vor Tagen auf, dass offenbar die Wegführung ab und an geändert wurde, was dazu führt, dass nun noch mehr Umwege dazukommen. An einer Stelle folge ich deshalb der alten Route. Jacky erklärte gestern, dass es für die Grande Randonnée (Fernwanderwege in Frankreich) eine Regel gibt: 30 % dürfen Asphalt sein, der Rest andere Wege. Ich vermute, dass dies noch nicht erfüllt ist. Durch die neue Streckenführung will der Prozentsatz der nicht-asphaltierten Wege nun erhöht werden. Allerdings zulasten der zu erlaufenden Kilometer.
Ich komme schnell am ursprünglichen Etappenende – Saint-Julien-Molin-Molette – an. Die gut 20 Kilometer habe ich bereits um 14 Uhr erlaufen. Heute für mich zu früh zum Stoppen. Also entscheide ich, die nächsten 7 Kilometer auch noch zu laufen. Dann habe ich morgen eine kürzere Etappe – mutmaßlich. Man weiß ja nie, was mir so einfällt 😉
Der Weg ist geschmückt mit Pilgersprüchen. Manche sprechen mich sehr an:
Vertraue dem Weg.
Es wird immer eine Hand geben, die Dir gereicht wird, eine Tür, die sich öffnet, eine Hilfe, die kommt.
Es wird jemanden geben, der da sein wird… für Dich.
Gérard Di Cicco
Pilger, Deine Wanderung auf diesem Weg, der Dich nach Santiago de Compostela führt, beginnt im Morgengrauen.
Halte an der nächsten Kapelle an und leere Deinen Sack von überflüssigen Sorgen.
Mit einem von Mut und Zuversicht erfüllten Herzen wirst Du voller Staunen in Fistera ankommen, am Ende der Welt mit Blick auf den Ozean.
Pierre Rivory
Ich muss gestehen, gerade beim letzten Spruch kitzelt es mich in den Füßen, noch viel weiter zu laufen. Als Antwort kommt gleich ein weiterer Spruch:
Wie weit willst Du pilgern?
Was erwartest Du Dir von diesem Weg?
Immer weiter entfernst Du Dich von Zuhause.
Und die Deinigen sagen: Vergiss uns nicht!
Paul B.
Nun, vielleicht mach ich es doch nicht 😉
Ich bin heute die einzige Pilgerin. Ansonsten sind nur Urlauber einquartiert – allerdings in anderen Räumen. So bleibe ich im Pilgerschlafgemach alleine. Meine heutige Gastgeberin – Isabelle – spricht übrigens perfekt Deutsch. Sie hat vor vielen Jahren Germanistik studiert. Eine angenehme Abwechslung.