Wahrhaft menschlich

von Katja Härle

30. September 2023

30,09.2023 Bullay – Traben-Trarbach 25,5 km

Ein Tag der Vielseitigkeit. So wie das Leben, so wie ich als Mensch.

Seit einiger Zeit treffe ich immer wieder Menschen, die mir Fragen stellen und bevor ich antworten kann, schon mir ihre Geschichte erzählen. Auch heute Morgen sitzt mit mir eine Frau beim Frühstückstisch, ebenfalls Pilgerin, die auf jede Frage gleich selbst die Antwort liefert. Schon auf meinem letzten Jakobsweg durch Frankreich ist mir das des Öfteren passiert. Was will mir das sagen? Dafür riskiere ich mal einen Blick in mein Inneres. Was passiert also in dem Moment, wenn mir eine Frage gestellt wird und ich im selben Augenblick merke, der Mensch interessiert sich gar nicht für meine Antwort? Ja, es macht sich Enttäuschung breit. Tatsächlich Enttäuschung. Ich hätte gerne von mir erzählt. Und was ich ebenfalls feststelle, ich bin nicht mehr wirklich beim Zuhören. In dem Moment, in dem mir eine Frage gestellt wird, bin ich bei mir und wenn der andere dann schon seine Antwort parat hat und loslegt mit Erzählen, hör ich eigentlich gar nicht wirklich zu. Also einerseits kriege ich schon mit, was mir erzählt wird, andererseits merke ich aber auch, ich bin mit meiner Enttäuschung beschäftigt. Aktives Zuhören schaut anders aus. Klar, ich finde meine Enttäuschung durchaus verständlich. Und trotzdem erkenne ich darin auch eine Lernaufgabe. Wie oft frage ich eigentlich und möchte dabei nur meine Geschichte erzählen? Also, wie oft stelle ich eine Frage, deren Antwort ich zwar geduldig abwarte, aber auch nur um letztlich im Anschluss meine Geschichte erzählen zu können? Wenn ich ehrlich sein soll, ist das gar nicht so selten. Und auch hier wieder: aktives Zuhören schaut anders aus. Jetzt mögen sich manche fragen,was meint sie eigentlich mit aktivem Zuhören? Darunter verstehe ich, dass man wirklich beim anderen ist, wenn dieser spricht. Man stellt sein ganzes System, alle Sinne, Augen, vor allem Ohren auf den anderen und seine Geschichte ein, hört und blickt auch zwischen den Zeilen. Was erzählt mir der Mensch und was will er mir erzählen, dass er vielleicht nicht ausspricht? Was sehe ich in seinem Gesichtsausdruck, in seiner Gestik und Mimik? Ich bin also mit all meinen Sinnen ganz aktiv beim Erzähler und werde dadurch zu einem ganz aktiven Zuhörer. In dieser Situation geht es nicht um mich. Es geht um den anderen. Natürlich kenne ich das bereits und ich wende es auch an, z.B. in meiner Arbeit oder wenn ich mit Freundinnen über ihre Themen und Probleme rede. Klar fließen dabei auch immer wieder meine Erfahrungen, Meinungen und Standpunkte mit ein. Wenn ich allerdings zuhöre, höre ich wirklich nur zu. Scheinbar gelingt mir das nicht immer. Und ich muss es auch nicht immer anwenden. Manchmal darf ich tatsächlich einfach nur erzählen wollen. Eben zum Beispiel, wenn man mir eine Frage stellt.

Bei all unserer Selbstoptimierung ist es mir total wichtig, immer wieder darauf zu verweisen, dass es nicht darum geht, ein gänzlich guter Mensch zu werden. Also im Sinne immer freundlich, immer beherrscht, immer friedlich und immer schön gewaltfrei kommunizieren. Gerade Letzteres ist ein gutes Beispiel: während meinen Aus- und Weiterbildungen in Sachen Gewaltfreier Kommunikation (GFK) ist mir ein Stein vom Herzen gerollt, als ich verstanden habe, ich darf mir die Erlaubnis geben, eben gerade nicht gewaltfrei zu kommunizieren. Wenn ich gewaltfrei kommuniziere, dann geht es mir vor allem darum, mit dem Menschen in Verbindung zu treten und manchmal ist mir schlicht nicht danach. Ich bin also in diesem Sinne kein Gutmensch, der in allen Dingen immer freundlich, sympathisch, offen und herzlich und ständig mit einem offenen Ohr daherkommt. Und ich muss mich auch nicht jedem zur Verfügung stellen, um mir seine Geschichte anzuhören. Da klingt ein Spruch einer meiner Ausbilder noch gut in meinen Ohren nach: „ Überlegt euch gut, wofür ihr euch hergibt.“ Also, wofür ich meine Zeit, meine Energie, meine Kompetenz, meine Aufmerksamkeit, und so weiter und sofort zur Verfügung stelle. Nur weil ich Coach bin, der in GFK und aktivem Zuhören geschult ist, ist die Anwendung dennoch optional und meinem völlig freien Willen unterlegen. Sei also menschlich, mit allem, was dazugehört. Sei auch mal zornig, und patzig, unsympathisch, und wenn es sein muss auch mal unfreundlich und wende Dich ab, wenn ein Mensch Dir zu viel Dinge erzählen will, die Du gar nicht hören willst und Dir damit nur Zeit raubt. Auch eine Form von Grenzen setzen.

Bitte nicht falsch verstehen, ich habe nichts gegen Gutmenschen. Ich habe nur etwas dagegen, wenn es nicht wirklich wahrhaftig und authentisch in Dir liegt. Auch hier ein Beispiel aus der GFK: einer meiner Ausbilder sprach verbal perfekt gewaltfrei. Und dennoch spürte ich permanent unterschwellig, dass ich ihm das nicht so ganz abkaufte. Irgendwie hatte ich oft das Gefühl, eigentlich möchte er doch etwas ganz anderes sagen und eigentlich möchte er doch ganz andere (weniger gewaltfreie) Worte verwenden. Klar, nur meine Fantasie. Und dennoch: nur ein kleiner Bruchteil an Informationen nehmen wir verbal auf. Den weitaus größeren Anteil nehmen wir über die nonverbale Schiene auf, also Gestik, Mimik, Ausdrucksweise usw. Was höre ich so zwischen den Zeilen, wie fühlt es sich an? Etc. Nicht alles liegt ausschließlich beim Sender; natürlich ist auch der Empfänger Ursache von Zerrbildern. Trotzdem meine ich, dass es spürbar ist für Dein Gegenüber, wenn das „Gutgemeinte“ nicht wirklich aus Deinem Innersten kommt. Dies ist also ein Plädoyer zum wahrhaftig Mensch-Sein. Trau dich, Deine Wahrheit zu leben und zu zeigen. Also wenn Dir nun mal gerade nicht nach zuhören ist oder wenn Du gerade nicht gewaltfrei kommunizieren willst, dann ist das so. Dann handle entsprechend und übernimm die Verantwortung dafür. Sei wahrhaftig, denn alles andere wäre eine Lüge gegen Dich selbst und wie gesagt im Grunde sowieso spürbar.

Ich merke, dass mich diese Gedanken gerade ziemlich befreien. Befreien von der Last solcher Sätze, „ey, das hast Du doch gelernt, wieso machst Du’s jetzt nicht?“ oder „Jetzt hast Du es schon wieder falsch gemacht“ und „Katja, das war aber nicht gewaltfrei“, „das war jetzt aber unfreundlich“ etc. pp. Vielleicht kennst Du solche Gedanken auch. Und vielleicht hilft Dir der Gedanke ebenso, dass das auch sein darf, dass Du eben mal nicht nett bist. Also nach dem Wahlspruch: Sei nicht nett sondern ehrlich! Oder vielleicht besser wahrhaftig. Das bedeutet für mich, dass ich es mir selbst wert bin, mich mit meiner ganzen Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, die nicht immer schön ist und auch nicht immer gefällt.

Gerade komme ich überhaupt sehr häufig mit dem Thema, seine Wahrheit zu leben und sie auch auszusprechen, in Kontakt. Ich nenne das in letzter Zeit immer gerne „Klartext“ und merke, wie schwer mir das fällt. Wie schwer es mir fällt, wirklich die Dinge ganz klar beim Namen zu nennen, insbesondere wenn sie nicht schmeichelhafter Natur sind. Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen, gelingt mir zwischenzeitlich sehr leicht. Das kann ich, das mache ich, das mag ich. Meine kritische Stimme zu erheben, fällt mir sehr viel schwerer. Insbesondere, wenn es sich um Menschen handelt, die mir nicht nahe stehen. Verrückt eigentlich! Vielen Menschen fällt es mit Abstand schwerer, ihnen völlig unbekannten Menschen ehrliche und offene Worte zum Ausdruck zu bringen, wie z.B. in meinem obigen Fall die Frage, ob meine Antworten überhaupt interessieren. Mir nahestehenden Menschen mute ich mich sehr viel wahrhaftiger zu. Hier traue ich mich, was mir bei Fremden selten gelingt. Und eigentlich könnte mir doch bei diesen der Ausgang ziemlich egal sein, oder nicht?

Tiefsinnige Gedanken schon am frühen Morgen, ausgelöst durch ein kurzes Gespräch beim Frühstück.

Später am Tag ist mir tatsächlich zum Weinen zu mute. Herzensprojekte, die ich erst vor kurzem angestoßen hatte und ins Leben rufen wollte, scheinen dem Scheitern nahe zu sein. Selbstzweifel packen mich, ich bin verunsichert, und ich merke, wie das wieder ganz schön an meinem Selbstwert kratzt. Da ich in diesem Moment gerade durch den Ort Zell laufe, muss ich es mir noch verkneifen. So mitten unter Menschen in Tränen auszubrechen, ist dann doch nicht so meins.

Also brodelt es in mir und ich bin so gar nicht wahrhaftig nach außen. In Gedanken sage ich mir, schlussendlich weiß man nie, wofür etwas gut ist und warum es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Niederlagen sind ja letztendlich auch nur Durchkreuzungen unserer Pläne. Wir empfinden es als Niederlage, weil das, was wir uns erhofft haben, eben sich nicht so erfüllen lässt. Und da stellt sich dann oft die Frage: weiterhin dranbleiben, eisern sein, zielstrebig bleiben, es irgendwie anders versuchen oder an der Stelle loslassen und das Ziel nicht weiter verfolgen, zumindest vorerst? Wenn ich wieder aus dem Jammertal emporsteige, erkenne ich oft im Scheitern eine Einladung zum Lernen oder eine Offenbarung eines „neuen Weges“. Und wenn wir ehrlich sind, ist es auch nur eine Form der Bewertung. Warum erlebe ich etwas als Niederlage oder als Scheitern? Es ist nicht so gekommen, wie geplant. Ja und? Fühlt sich Kacke an. Aber auch nur, weil wir uns manchmal zu sehr über das Erreichen unserer Ziele definieren. Ziele sind gut. Sie sind Triebfeder und Ansporn. Ich will jetzt nach Trier laufen. Ob ich das Ziel erreiche? Wahrscheinlich schon, sicher kann ich trotzdem nicht sein. Wer weiß, was passiert. Gut ist, wenn man flexibel bleibt und anerkennt, dass oft Pläne anders verlaufen. Dass wir das gleichsam als ein Scheitern erleben, ist sicher nicht förderlich. Daraus zu lernen, was kann ich nächstes Mal besser machen? Auf jeden Fall. Trübsal blasen und den Kopp in den Sand stecken, ist nicht hilfreich. Zumindest nicht, wenn ich da nicht mehr so einfach rauskomme. Einerseits meine Zweifel und Versagensängste, kurzum meine Gefühle wahrzunehmen und auch zu spüren und nicht einfach darüber hinwegzugehen und andererseits daraus zu lernen, andere Möglichkeiten auszuloten und vielleicht sogar das Gute darin zu sehen, ist ein Balanceakt, wie vieles im Leben.

Und vieles ändert sich im Verlauf unseres Lebens: Grenzen, Werte, Ideale, Standpunkte und eben auch Ziele. Bitter ist es trotzdem und allem mal, wenn man ein Ziel aufgeben muss oder eben verloren glaubt.

Gut eine Stunde später bergabwärts beschäftige ich mich schon wieder mit der Problemlösung des Ganzen, entwickle Ideen, halte diese gleich mal für mich fest und pendle mich wieder auf einem normalen Niveau ein. So nah liegen Gefühle des Scheiterns und der Zuversicht manchmal beieinander. Da lobe ich mir meine „Steh-auf-Mentalität“ und der zwischenzeitlich sehr hoch angelegten Kompetenz, mich aus sämtlichen Löchern selbst heraus zu ziehen. Ok, zugegeben, nach einem aufmunternden Telefonat. Jeder braucht halt ab und an Zuspruch, auch ich 😉

Und so meistere ich tatsächlich vielfach heute so ganz nebenbei den Weg, der mich unter anderem über den Bummkopf führt. Dieser gilt als herausfordernd. Nun ja, für mich war er das nicht. Da war Tag 2 herausfordernder, sicherlich wegen der schlechteren Kondition. Heute bin ich deutlich fitter, weshalb ich nur stellenweise ins Schwitzen und Hecheln gerate. Und zuletzt bin ich wieder sehr beschwingt und gut drauf. So wechselt die körperliche Fitness und emotionale Stimmung runter und rauf – ganz wieder Weg entlang der Mosel.

Alles liegt nah beieinander, Niederlage und Erfolg, Tränen und Freude. Oftmals nur durch einen Perspektivenwechsel voneinander getrennt. Quasi auch wie zwei Seiten einer Medaille. Dabei finde ich es wichtig, beide Seiten zu erleben und zu fühlen. Also die Niederlage zu spüren, meinen Frust, meine Wut und meine Traurigkeit darüber. Und dann das Umschalten, wenn ich erkenne, dass auch diese Situation eine Lehre in sich trägt, etwas, woraus ich lernen kann, was ich nächstes Mal besser oder anders machen kann. Und was ich jetzt noch an Möglichkeiten habe.

Und so komme ich wieder einmal zu dem Schluss: ob wir ein zufriedenes Leben führen oder eher ein unglückliches Dasein fristen, liegt ganz stark an unserer Fähigkeit, Situationen zu bewältigen und in ihnen auch immer die guten Dinge zu sehen. Resilienz, also eine gewisse Stress-Widerstandsfähigkeit, begründet sich meiner Ansicht nach im Wesentlichen genau darauf. Wie gehe ich mit den eher weniger schönen Situationen im Leben um? Wie schnell kann ich aus ihnen positive Lehren ziehen und einen für mich machbaren Weg erkennen und auch begehen? Wer diese Fähigkeit lernt und mehr und mehr kultiviert, kann den Widrigkeiten des Lebens besser trotzen. Ergebnis ist eine höhere Zufriedenheit, weil man sehr viel schneller die Talsohle verlässt und sich wieder zu höheren Lagen aufschwingt und den Blick von oben genießt. Ein ganz wichtiger Effekt und ein sehr großer Baustein für Zufriedenheit ist die Selbstwirksamkeit. Bleibe ich im Gefühl der Niederlage und des Scheiterns, hält mich das in der Passivität, oder sogar in einer Opferhaltung. Oder nutze ich die Situation für neue Wege, andere Sichtweisen etc. Hier nehme ich die Zügel wieder aktiv in meine Hände. Ob Du also eine Krise als Chance oder als Gefahr siehst, liegt ganz entscheidend bei Dir selbst. Bleibst Du auf der Seite der Niederlage, der Trauer darüber, der Wut und im Frust hängen oder erkennst Du die Lehre darin, das Lernpotenzial und Deine verbleibenden Möglichkeiten? Es liegt an dir. Stimmst du mir zu?

Aaaah, beinah vergessen zu schreiben: Vergessen ist auch genau das Stichwort. Nämlich meinen Pilgerausweis (ihr wisst, der mit den Stempeln) in der letzten Kirche oben auf dem Berg. Um genau zu sein in Starkenburg. Das fällt mir auf, als ich in meiner heutigen Unterkunft, der Pilgerherberge „Alte Lateinschule“ in Traben-Trarbach ankomme und in meiner Hosentasche ins Leere greife. Ach du Schreck. Auch etwas, das mir auf meinen vielen Wegen noch nicht passiert ist. Die Herbergsmutter weiß Abhilfe: einen Pilgerausweis, den ein anderer Pilger vor geraumer Zeit hier vergessen und sich nicht gemeldet hatte. Außer einem Namen steht nichts drin. Anders als bei meinem, der sowohl Adresse als auch Telefonnummer beinhaltet. Kurze Zeit später klingelt mein Handy auch bereits: die Mesnerin der Kirche hat ihn gefunden und wird mir den Pilgerausweis nach Hause schicken. Tja, und derweil nutze ich jetzt mal diesen „Leihausweis“. Auch was wahrhaft Menschliches: Vergesslichkeit *lach*

Ich verlasse Bullay – Hochnebel am Morgen
Die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die Wolken
Schmuckes Merl
Und ebenso schönes Zell, da ich nach knapp 7 km erreiche
Sehr viel Weinlokale und Weinausschank – eine Bäckerei habe ich allerdings nicht gefunden 😉
Gleich nach Zell geht‘s zum Bummkopf hoch
Jep, da geht’s nauf
Belohnung 🙂
Hier scheint‘s manchmal ordentlich über den Bergkamm zu stürmen…
Endlich ganz oben!
Gediegen abwärts in duftendem Wald
Enkirch (rechts) ist bald erreicht
Enkirch verlasse ich über enge Pfade und Treppchen steil bergauf
Wie im Leben: alles hat zwei Seiten, die schöne Aussicht und die vor mir liegende steile Treppe 🙂
Auf dem Weg zwischen Enkirch und Traben-Trarbach Aussichten ohne Ende
Der Weg ist ein Traum
Witz oder Ernst? In Starkenburg auf dem Bergkamm steht ein Schild, das ein Hochwasserpegelstand von 1983 angeben will – ganze 230 m hoch soll es gestanden haben. Natürlich ein Scherz! Humor an der Mosel – vielleicht durch den vielen Wein begünstigt 😉
Traben (rechts der Brücke)-Trarbach (links) in Sicht
Abstieg in Serpentinen
Um 17:15 Uhr ist‘s geschafft: rechts im Kirchenanbau die Pilgerherberge „Alte Lateinschule“ unter dem Dach
Etappe 4



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