Clavas (ca. 1,5 km abseits des Weges) – Tence 29,5 km
In einem Tag ein ganzes Jahr.
Genau vor 2 Wochen habe ich diesen Weg begonnen. 2 Wochen, die mir vorkommen, wie Monate, mindestens. Und auch heute geht es rauf und runter (nicht nur der Weg): meine Stimmung, meine Laune auf und mit dem Weg, meine physische Beanspruchung.
Ich starte wie gewöhnlich auf diesem Weg um 7:30 Uhr. Die Nacht war sehr ruhig; ich habe gut geschlafen. Vielleicht kam das gestern falsch rüber: die 5-köpfige Familie und ich hatten je ein eigenes Zimmer. Das lag daran, dass die Gîte im alten Kloster ca. 6 oder 7 Schlafräume mit Stockbetten hat. Wir hätten quasi alle ein eigenes Zimmer haben können. Und da sie ein Zimmer am anderen Ende des Hauses auf der Zwischenetage gewählt haben, kriege ich wirklich gar nichts von ihnen mit.
Der Weg ist heute sehr schön, geht viel durch Wald, Wiesen und meist auf unbefestigten Wegen. Allerdings weiche ich mal wieder von der ausgeschilderten Route ab, weil die erneut eine größere Abweichung zum früheren Jakobsweg darstellt. Das bin ich heute nicht bereit zu gehen, handle mir dadurch aber mehrere Kilometer Asphalt ein. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, soweit zu gehen. Doch im nächstgrößeren Ort – in Montfaucon-en-Velay – bin ich kurz nach 13 Uhr. Das ist viel zu früh und ich nach gut 18 Kilometer auch noch zu frisch. Die nächste Unterkunft läge ca. 9 Kilometer entfernt und ist – mal wieder – durch eine Gruppe voll ausgebucht. Also wird es Tence, das ist „nur“ gut 2 Kilometer weiter. Erstaunlich, dass die 11 km ab Montfaucon dann wirklich leicht dahingehen.
Denn am Vormittag sieht es noch ganz anders aus. Ich stolpere über den Weg; so richtig Lust zu laufen, habe ich ehrlich gesagt – bis auf wenige Ausnahmen – schon seit Tagen nicht mehr. Den ganzen Tag über laufe ich also Kilometer um Kilometer, angetrieben durch den Wunsch endlich anzukommen. Bin ich dann da, fühle ich mich nicht wohl, nicht willkommen, gefällt es mir nicht oder ich fühle mich nicht eingeladen zu bleiben und es kann gar nicht schnell genug Morgen werden, dass ich wieder weiter kann. Und das Ganze beginnt von vorne.
Schon so lang unterwegs.
aus dem Song „Zuhause“, Max Giesinger
Mein Kopf will immer nur weiter.
Mein Herz sagt, dass ich Zuhause vermiss‘.
Wo auch immer das ist.
Wann halt‘ ich an und hör‘ auf wegzulaufen?
Weil ich Zuhause vermiss‘.
Wo auch immer das ist.
Mit Zuhause verstehe ich insbesondere zwei Dimensionen: den Ort, an dem ich mich endlich niederlasse, weil es mir dort gefällt, mit dem Wunsch zu bleiben. Und vor allem das Zuhause in mir.
Weil beides gerade und schon so lange nicht mehr spürbar ist, renne ich wohl über diesen Weg. Selbst wenn ich hier und jetzt entscheiden würde, diesen Camino zu beenden, wo ginge ich hin? Im Moment spüre ich mich nirgendwo hingezogen. Heimatlos.
Ich bin seit Tagen mit diesen Gedanken beschäftigt und darüber ganz schön deprimiert. So lange schon suche ich ein Zuhause – äußerlich wie innerlich. Will endlich ankommen. Und dabei führt der Weg eben allzu oft durch Dickicht, unwegsames Gelände, manchmal sogar kein Weiterkommen, ähnlich wie hier auf der Via Gebennensis. Heute habe ich wirklich viele Abschnitte zugewachsener Wege. Und das ist ganz schön unangenehm. Sowohl hier auf dem Jakobsweg als auch im richtigen Leben. Diese Phasen des Nicht-Weiter-Wissens, wenn der nächste Schritt im Unklaren geschieht, fordern viel von mir ab. Anstrengung, Mut, Zuversicht, Durchhaltevermögen. Letzteres scheint gerade sehr wichtig: so lange dauert es schon, solange dass ich mich im Vertrauen übe, dass es gut ist, so wie es ist, und mir das Leben irgendwann, wenn es sein soll, die Richtung weist. Manchmal keimt in mir der Gedanke, dass ich einfach irgendwas machen sollte, nur um Bewegung in die Sache zu bringen. Einfach irgendeinen Schritt. Aber so ohne Anreiz, ohne klaren Impuls, fehlt mir der Mut. Manchmal ist stehen zu bleiben, da zu bleiben, wo man ist, das Richtige und doch so schwer auszuhalten…
Oder liegt die Wahrheit doch viel eher darin, einen wirklich wegemutigen Schritt zu gehen, ohne zu wissen, was daraus wird? Einfach machen? Nach dem Motto, wer nie losgeht, wird nie ankommen…
Urplötzlich kommt mir tatsächlich eine Idee – die ist nicht gänzlich neu, allerdings abgewandelt, fast schon möchte ich sagen, eine verbesserte Variante der Idee. Noch zu frisch, um hier darüber zu schreiben. Gewisse Zweifel und Bedenken sind außerdem da. Dennoch beflügelt mich dieser Gedanke. Mal sehen, was daraus wird.
Nun ist es auch amtlich, dass ich in 2 Tagen in Le Puy-en-Velay eintrudle. Ich habe soeben meine Unterkünfte für die Tage reserviert. Das bedeutet, ich habe am Dienstag die Via Gebennensis abgeschlossen und damit gut 340 km hinter mich gebracht. Und heute fühlt es sich so an, als würde ich dann erstmal aufhören. Hier in Frankreich. Aber warten wir ab, was die nächsten 2 Tage zeigen… ganz traue ich mich noch nicht, das Kapitel abzuschließen 😉
Und wie es der Zufall will, sitze ich eben beim Essen neben einem anderen Pilger. Ein Franzose, wohnhaft nahe der Grenze zum Saarland, weshalb er auch Deutsch spricht. Dieser pilgert allerdings einen anderen Pilgerweg, keinen Jakobsweg und erzählt mir, dass er 2010 von Le Puy bis zum Atlantik gelaufen ist und für ihn der schönste Abschnitt die 13-14 Tagesetappen von Le Puy nach Cahors waren. Also werde ich darin bestärkt, besser noch mit der Entscheidung zu warten.