21.05.2023 – Schweizer Jakobsweg 20. Tag Heimreise & Fazit

von Katja Härle

21. Mai 2023

Am Tag der Heimreise bleibt mir immer die Zeit zu reflektieren, meine Eindrücke nochmals zu sammeln und zu resümieren. Die diesmalige Rückreise lässt durch mehrere Zug- und Busfahrten sowie einer anschließenden längeren Autofahrt dafür ausreichend Zeit 😉 und beginnt gleich mit Zugausfällen.

Pilger Karl – ein altbekannter Ellwanger, der letztes Jahr verstorben ist – begegnete mir im Geiste dieses Mal öfters. So auch heute: „Reise langsam vom Weg nach Hause. Am besten mit dem Bus. So kommt Deine Seele besser mit.“ empfahl er mir schon beim 1. Jakobsweg. Fliegen fand er die völlig falsche Form. „Viel zu schnell.“ Dann wäre Karl wahrscheinlich mit dem heutigen Ablauf zufrieden. Ich rechne nicht damit, vor Mitternacht zu Hause anzukommen.

Schon interessant, ich habe viele Tipps und Anekdoten von Karl mit auf meinen Wegen bekommen. Ich erinnere mich an unser erstes Gespräch, genauer gesagt ein Telefonat, bevor ich mich 2017 das erste Mal als Pilgerin auf den Weg machte. „Niemals alleine, manchmal zu zweit, immer zu dritt“ solle ich gehen, empfahl er mir und nicht am Stück die Etappe von St-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles zurücklegen. Was tat ich? Genau das Gegenteil. Ich ging alleine und klar, lief ich die 27 km gleich am 1. Tag über die Pyrenäen. Sollte, nein, musste so sein. Das spürte ich tief im Innern. Diese Gewissheit, diese unerschütterliche Klarheit in mir, etwas zu tun, fühlte ich damals sehr intensiv. Und seither wünsche ich mir diese Klarheit bei Entscheidungen aller Art herbei. Wie oft stehen wir an einer Wegkreuzung im Leben oder ringen mit einer Entscheidung. Diese Zeiten, in denen wir uns diese unverrückbare Klarheit wünschen, genau zu wissen, was zu tun ist, kennen wir sicher alle. Doch, nicht immer ist sie uns gegeben, diese Einsicht. Oft müssen wir im Leben entscheiden, ohne zu wissen, ob es richtig ist. Oft müssen wir eine Entscheidung wagen, ohne genau zu spüren „das ist der Weg, den ich gehen will“. Seit ich mich mit Intuition und Bauchgefühl und sämtlichen psychischen sowie physischen Signalen beschäftige, die uns unterstützen können, Entscheidungen zu treffen, höre ich gerne die trivialisierende Floskel: „Du musst aus Deinem Kopf gehen und in Dein Herz, in Deinen Bauch spüren. Dann wirst Du wissen, was Du tun sollst.“ So einfach ist das allerdings nicht. Zum einen ist es Typ-abhängig. Menschen mit einem ausgeprägten Scharfsinn und der Fähigkeit, Zusammenhänge schnell zu erfassen, sowie einer Vorliebe für Hintergrundwissen und dem Hang, verstehen zu wollen, können dies nicht auf Knopfdruck ausschalten. Naturgemäß wägen sie mehr ab und denken über Konsequenzen ihrer Entscheidungen nach. Und zum anderen ist die Art, wie wir entscheiden, auch der Gewohnheit geschuldet. Durch Schule, Job etc. sind wir eher dazu erzogen worden, unseren Verstand zu gebrauchen. Entscheidungen sollten rational getroffen werden.

Beides für sich alleine betrachtet – also reine Bauch- oder Kopfentscheidungen – trifft es aus meiner Sicht nicht. Ich bin der Auffassung, dass wir Menschen aus gutem Grund all diese „Informationsquellen“ haben. So geben uns Kopf, Herz und Bauch Signale, die wir bei der Entscheidungsfindung berücksichtigen sollten. Wie wir sie jeweils verstehen und berücksichtigen, ja, das ist die eigentliche Herausforderung, das tatsächliche Geheimnis. Und das ist nicht dadurch entschlüsselt, indem ich alles beiseite schiebe und mich fortan nur noch auf meine Gefühlslage bzw. meine Empfindungen – also wahlweise auf Herz oder Bauch – konzentriere. Alles hat seine Berechtigung. Es gibt keinen leistungsfähigeren Computer als unser Gehirn, insbesondere wenn man daran denkt, dass wir nur einen Bruchteil seines Potenzials bewusst ausschöpfen. Menschen, deren Geist rege und zu schnellen Schlüssen fähig ist, deren Verstand es ihnen ermöglicht, weitsichtig und umfassend Situationen und Geschehnisse sowie deren zukünftige Auswirkungen zu erfassen, sind zu Großem fähig. Solche Menschen sind für mich z. B. Mahatma Gandhi, der Dalai Lama und Thich Nhat Hahn. Oder Marie Curie, Sophie Scholl und Rosa Luxemburg. Ja, ich denke, dass diese Menschen die Fähigkeiten eines scharfen Verstandes mit der Leidenschaft und Überzeugungskraft des Herzens sowie dem Mut und der Willensstärke durch eine gute Erdung kombinier(t)en. Die Summe aus diesen Bestandteilen führt zu einer Entscheidung, die uns langfristig trägt. Natürlich will nun nicht jede(r) weltumwälzende Dinge schaffen. Doch auch die weniger gewichtigen Entscheidungen in unserem Leben haben große Auswirkungen – zumindest auf unser Dasein.

Ups. Mal wieder ganz schön abgeschweift. Oder doch nicht? Was ist denn mein Fazit aus dem Schweizer Jakobsweg? Genau das! Entscheidungsfindung ist nicht leicht. Oft zumindest nicht. Ich habe in einigen Bereichen meines Lebens seit geraumer Zeit Fragezeichen stehen und ich wünschte mir sehr, dass aus ihnen Ausrufezeichen werden, dass diese klare Einsicht in mich fährt und ich plötzlich sagen kann: „jetzt weiß ich, was ich mache“. Und ja, irgendwie habe ich gehofft, zumindest ein oder zwei klare Antworten zu erlaufen. Aber nein. Habe ich nicht.

Alles nichts bzw. alles oder nichts

Ich möchte hier gerne ein Beispiel für eine Entscheidungssituation geben, wie ich sie gerade oft erlebe:

In Interlaken gingen wir – wie am Tag 11 beschrieben – in den Intersport, um mir ein Wanderhemd und Frank eine kurze Hosen zu kaufen. Dabei greife ich erneut zu einem dünnen Shirt, das mir sehr gefällt und sich so weich anfühlt, dass ich mich direkt verliebe. Die Liebe währt nicht lange: es besteht zu 80 % aus Merinowolle. Grundsätzlich eigentlich ein weiterer Grund für meine Verliebtheit, denn ich liebe den Gedanken von natürlichem Material. In Merino gekleidet kann man tagelang wandern. Das Material fördert Schweiß schnell nach außen, fühlt sich dabei trotzdem warm an, auch wenn es klamm am Körper liegt und man stinkt nicht. Das dauert bei Merino wirklich lange. Wenn ich nun zudem darauf achte, eine Mulesing-freies Produkt zu kaufen (keine Verstümmelung der Lämmer und Schafe) und in Bioqualität (in der Hoffnung, dass hier die Wolle grundsätzlich artgerecht und ohne Tierqual gewonnen wird), wäre alles perfekt. Soweit zur Theorie. Meine Haut sieht das leider anders. Wolle erzeugt bei mir gerne ein Kratzen, insbesondere am Dekolleté und im Achselbereich. Die Alternative? Polyester. Problem: die Materialien mögen den Schweiß ebenfalls gut nach außen transportieren, allerdings friert man schneller, zumindest ich, und der Geruch lässt schnell (hier rede ich von Stunden, nicht Tagen) zu wünschen übrig. Und die Würzmischung nimmt unangenehme Ausmaße an, wenn man tagelang wandert. Selbst, wenn das Polyester-Shirt nicht nach Schweiß riecht, dann doch mindestens nach „muffig-altem-Lappen“. Kennst Du den Geruch, wenn der Spüllappen so modrig riecht? Eine Mär ist, dass dies vom drohenden Wetterumschwung kommt. Keine Ahnung, ob das wirklich stimmt, aber ich bin „allergisch“ gegen diesen Geruch. Der Gestank der Sportklamotten rührt vom ständigen Schwitzen her, also dem Vorgang, der das Gewebe immer wieder feucht werden und wieder trocknen lässt. Jeden Abend alles zu waschen, wäre die einzige Abhilfe, was allerdings utopisch ist. Zudem kommt bei mir hinzu, dass ich mich in diesen Materialien wie eingesperrt fühle. Ich habe oft das Gefühl, nicht vernünftig atmen zu können, weil das Gummizeug halt doch keine wirkliche atmungsaktive Alternative ist. Es wird ständig weitergeforscht, neue Materialien bzw. Materialmixes erfunden, um den Effekt von Merinowolle zu erreichen. Tatsache ist, dass bislang alles nur näherungsweise dieselben Eigenschaften aufweist. Die Natur ist unkopierbar. Zumindest noch. Was mache ich also? Ich hätte gerne die Eier-legende-Woll-Milch-Sau. Die gibt es bei Wanderbekleidung ebenso wenig wie in der Natur. Ich kann mich also nur für das eine oder das andere entscheiden. Leichtes Kratzen von Zeit zu Zeit ertragen oder das beklemmende Gefühl mit würziger Duftnote.

Und dieses Entweder-Oder ist ein gutes Exempel für einige Entscheidungssituationen in meinem Leben. Wie es scheint, hat mir das der diesmalige Camino nochmals sehr deutlich gemacht.

Ich habe schnell gemerkt, dass das gemeinsame Pilgern ganz anders ist, als alleine unterwegs zu sein. Irgendwie gelang es mir nicht in meinen inneren Dialog einzusteigen, wie ich es vom Pilgern gewohnt bin. Daher waren dieses Mal meine Blogbeiträge mit deutlich weniger Tiefgang gesegnet als sonst. Das Bloggen viel mir grundsätzlich schwerer, nicht zuletzt weil ich oft nach Worten suchte. Herauskam meist eher eine Art Reisebericht, kein üblicher Katja-Blog, der sonst wortwitzig, selbstreflektierend und erkenntnisreich daherkam. Das fehlte mir, gebe ich zu.

Auf der anderen Seite habe ich es auch genossen, nicht alleine zu laufen, Frank an meiner Seite zu haben. Während des Tages Erlebnisse und Erfahrungen zu teilen, war schön. Und auch wenn ich meist die Organisation der Route, Übernachtungen etc. übernahm, fand ich es beruhigend, damit nicht alleine zu sein. Vielleicht fiel es mir deshalb auch schwer, abends meine Ergüsse niederzuschreiben, weil ich die Erlebnisse während des Tages schon mit jemand geteilt hatte. Die Notwendigkeit, mich mitzuteilen, entfiel einfach. Das ist eine sehr schöne Erklärung, besser gesagt Erkenntnis, und mir just gekommen. Gefällt mir 😉

Diese Erfahrung, mit Frank gemeinsam den Schweizer Jakobsweg zu gehen, ist ein gutes Beispiel für den immerwährenden Widerstreit in mir zwischen Beziehung und Single-Sein. Es ist nicht dasselbe, den Jakobsweg alleine oder zu zweit zu gehen, ebenso wenig wie gemeinsam oder alleine den Lebensweg zu begehen. Beides hat Sonnen- wie auch Schattenseiten. Die zwei Seiten einer Medaille. Gehe ich alleine, bin ich ganz mit mir verbunden, kann alles so tun, wie ich es will – ohne Kompromisse. Allerdings trage ich jede Entscheidung auch alleine, keiner, der eine entstandene Situation mit mir trägt, keiner, mit dem ich meine Erlebnisse teile. Gehe ich als Paar, teile ich gute und schlechte Zeiten; in guten freuen wir uns gemeinsam, in schlechten teilen wir die Last. Doch ich muss die Bedürfnisse des anderen berücksichtigen, bei so ziemlich allem, was ich tue. Ich bin nicht mehr uneingeschränkt frei in meinen Entscheidungen, schon allein emotional nicht.

Alles oder nichts oder heißt es richtigerweise alles ist nichts bzw. nichts ist alles? Wer alles haben will, wird am Ende nichts mehr haben. Wenn ich ewig zwischen Partnerschaft und Singleleben hin- und herpendle und dabei immer erlebe, was ich gerade nicht habe, also ich mir in Partnerschaft die uneingeschränkte Freiheit wünsche und als Single die Vertrautheit einer Partnerschaft, dann lebe ich ständig im Mangel. Entscheidend ist also, zu erkennen, dass alles auf einer Entscheidung beruht. Wähle ich das Singleleben, entscheide ich mich automatisch gegen die Partnerschaft und umgekehrt. Entscheiden bedeutet, ich lebe dies nun voll und ganz. Ich erlebe darin alles, immer das Gute ohne die Schattenseiten zu ignorieren. Die Alternative wäre, ständig der Illusion hinterherzulaufen, es gäbe doch noch eine Möglichkeit, alles zu haben – quasi eine Partnerschaft als Single, ein Merinoshirt ohne Kratzen oder gleich eine andere Haut. Der Clou ist zu erkennen, dass ich, das, was ich lebe, nur ganz und gar leben kann. Denn sonst verpasse ich das eigentliche Leben. Wenn ich im Nichts alles erlebe, die ganze Fülle des Universums, dann habe ich alles gefunden: denn nichts ist alles und alles ist nichts. Verstehst Du?

Also ich nicht. Bei all dem, was ich geschrieben habe, bin ich voll dabei. Und trotzdem, was mir so leicht aus den Fingern fließt, lässt sich nicht so einfach umsetzen, nicht für mich zumindest. Ich bin sogar der Überzeugung, das schwerste am Leben ist, sich für das Leben zu entscheiden, Entscheidungen zu treffen und sie voller Inbrunst zu leben. Und eben nicht nach allem anderen zu trachten, gegen das man sich unwillkürlich entschieden hat. Wenn ich einmal heirate, kann ich nie wieder Junggeselle sein. Ich bleibe im Status verheiratet bzw. geschieden. Ich kann mich an einer Kreuzung für rechts oder links entscheiden und nicht beides gehen. Und ich werde nie wissen, wie mein Leben verlaufen wäre, wäre ich die andere Richtung gegangen. Es ist also müßig darüber nachzudenken. Und doch tue ich es oft. Entscheide Dich und dann bleib dabei, bis Du Dich eben wieder für etwas anderes entscheidest. Wer ewig mit zerrissener Seele unterwegs ist („was wäre, wenn ich…hätte?“), wird nie eins sein, nicht mit sich und nicht mit seinem Leben.

Also Katja, entscheide Dich und dann lebe Deine Entscheidung. Alles andere ist einfach nur Schwachsinn und der Grund jeglicher Unzufriedenheit!

Und da fällt mir wieder Pilger Karl ein. Er strahlte für mich vollendete Zufriedenheit aus. Und Genügsamkeit. Hinter dieser vermute ich die geheime Zutat, ohne die wahre Zufriedenheit nicht erreicht werden kann. Wo, wenn nicht während des Pilgerns, wenn der Alltag nur aus Gehen, Essen, Trinken und Schlafen besteht, kann diese wohl erfahren und verinnerlicht werden?

Vielleicht einer der Gründe, wieso es mich immer wieder auf den Jakobsweg zieht: ich möchte mich daran erinnern, was ich tatsächlich brauche zum guten Leben. Sehr viel weniger, als wir gemeinhin glauben.

In diesem Sinne: Ultreia! Und ein beherztes Buen camino!



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